Physiologie, Mathematik, Musik und Medizin:
Definitionen und Konzepte für die Forschung
von Ralph SpintgeEinführung und BegriffserklärungIn den vergangenen 15 Jahren sind bedeutende Fortschritte sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Anwendung von Musik in der Medizin erzielt worden. Heute schließlich liegen zuverlässige Beweise dafür vor, daß Musik eine reproduzierbare Wirkung ausübt und über wertvolle therapeutische Eigenschaften verfügt. Aus diesem Grund schlagen wir als Begriff für den therapeutischen Einsatz von Musik in der Medizin die Bezeichnung MusikMedizin (ein Wort, zwei große M) vor. Ebenso umfassend wie wesensbezogen steht das Wort "MusikMedizin" für eine wissenschaftliche Bewertung musikalischer Stimuli im medizinischen Bezugsrahmen, insbesondere über mathematische, physikalische, physiologische und medizinische Untersuchungen - aber auch im Hinblick auf ihre therapeutische Anwendung zur Ergänzung traditioneller Heilmethoden unter Beachtung des jeweiligen Krankheitsfalles, der zugehörigen Medikation sowie des individuellen Procedere (s. auch Spintge & Droh 1992a; Maranto 1992; Pratt 1995).
Dieser Ansatz unterscheidet sich von dem der Musiktherapie als Teil der psychiatrischen Fürsorge oder der Psychotherapie (Aldridge 1993). Wir verstehen Musiktherapie als psychotherapeutische Anwendung der Musik, als eigenständige Spezialität. Natürlich besteht grundsätzlich ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen MusikMedizin und Musiktherapie. Hinzu kommt, daß der Begriff "Musikmedizin" heute auch mit Berufskrankheiten von Musikern und Tänzern assoziiert wird.
Die Hauptfrage in diesem Zusammenhang bleibt jedoch noch immer unbeantwortet: Warum ist Musik wirksam und welche sind ihre Wirkungsparameter? Es scheint allgemeiner Konsens darüber zu bestehen, daß Musik möglicherweise das wirksamste emotionale und ästhetische Kommunikationsmittel überhaupt ist. Es gab und gibt keine menschliche Zivilisation, in der nicht Musik gemacht und erlebt wurde. Die Frage bleibt: wie können wir den musikalischen Code für emotionale Kommunikation entschlüsseln? Unsere klinische Arbeit führt uns zu der Annahme, daß der Rhythmus das effektivste musikalische Element darstellen könnte. Der musikalische Rhythmus wird als strukturierte Abfolge von metrischen, melodischen und harmonischen Einheiten über die Zeit innerhalb eines Musikstückes verstanden. Von einem eher biologisch orientierten Blickwinkel aus betrachtet, ist er eine strukturierte Abfolge von zeitbezogenen Funktionseinheiten innerhalb eines dynamischen Systems
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